Südwestlich von Neutral-Moresnet

NM

Als ich beim Kunden aus dem Haus gehe ist es kurz nach halb 6 und schon ziemlich dämmrig. Nur ganz kurz erwäge ich, den Bus von Kelmis nach Aachen zu nehmen. Nein, ich habe mir extra einen GPS-Track auf mein iPhone geladen, die Wanderschuhe und die Wandermütze im Rucksack mitgenommen. Außerdem habe ich die Länge der Strecke relativ genau vermessen und bin auf etwa 11 Kilometer gekommen, das waren in meinen besten Zeiten nicht mehr als 100 Minuten. Also auf gehts.

Der Feldweg „Roter Pfuhl“ entpuppt sich als von Pfützen durchsetztes, schwieriges Terrain. Inzwischen ist es schon ziemlich finster, aber ich bin dennoch guter Dinge. Immerhin sind sogar noch ein paar Hundehalter mit ihren Fiffis unterwegs. Auf einer Bank sitzend wechsele ich meine Schuhe, während mich ein kleiner Terrier (für genauere Ansprachen ist es doch schon zu dunkel) umtänzelt. Ich werfe ihm ein freundliches „Na Dicker“ zu, das aus dem Dunkeln mit einem ängstlich-weiblichen „Bei Fuß, Fritz“ beantwortet wird. Tss, als wäre ich ein Unhold, bin doch nur ein harmloser Spaziergänger.

Tatsächlich verbessern sich Weg- und Lichtverhältnisse kurz darauf, als ich die Atherstraße erreiche und die Bahnstrecke nach Brüssel überquere. Zwischen den typisch großzügigen belgischen Landhäusern mit ihren schlecht nachgemachten schmiedeeisernen Toren und Türen stehen gelblich strahlende Funzeln, die ein traniges Leuchten auf die inzwischen wieder asphaltierten Wege zaubern. So hatte ich mir das vorgestellt. Auch die Steigung entspricht den Erwartungen: Bei rund 200 Meter über NN bin ich losgestiefelt, jetzt sind es bereits 286 Meter.

Der nächste Streckenabschnitt führt durch die Wolfsheide Richtung Schmalzloch, hach welch romantische, rührende Bezeichnungen. Zur Belohnung führt die Strecke jetzt mit 13 bis 15% Steigung bis auf 335m über NN. Am Beginn des Waldwegs Wolfsheide steht ein rotes Grablicht in einer Blaustein-Mauernische. OK, ab jetzt wird aussortiert. Die Weicheier und Wollsockenträger sollten besser umkehren. Die Ausgeschlafenen und Checker sitzen eh bereits mit ihrem zwoten Bier vor dem Fernseher. Die wirklich Abgedrehten dürfen weiter in die Schwärze wanken. Ich wechsle die Musik: Von „Sunbather“ (Hippiemetal) und „Farsot“ (Studentenmetal) switche ich auf „Altar of Plagues“ (ganz schwarzer Metal) und tauche in den dunklen Wald ein.

Diesen kurzen Verbindungsweg bis zur mir wohlbekannten Schutzhütte im Oecher Bösch habe ich mir vorher ganz genau angeschaut. Mir ist klar: Sobald ich die Hütte erreiche, werde ich auch im Stockfinstern heim finden, die Strecke kenne ich im Schlaf. Das Zwischenstück ist ungefähr 1,5 km lang, das muss doch zu schaffen sein. Während ich unsicher nach vorne tapse, versuche ich mir den Verlauf des Wegs aus Google Earth ins Gedächtnis zu rufen. Zwar kann ich auch mein Mobiltelefon konsultieren, doch bin ich dann für die nächsten 90sec wirklich völlig blind. Taktile Orientierung ist noch am besten merke ich: Wenn die Tritte tiefer werden, bin ich abseits des ca. 70cm breiten Trampelpfades.

Etwa die Hälfte des tiefschwarzen Dilemmas habe ich bereits geschafft, wie mir mein tolles GPS-Programm verheißt. Siehste Genosse, geht doch. Beschwingt schreite ich aus, da erwische ich mit dem Schwungbein einen völlig unsichtbaren Baumstumpf, der mich allzu plötzlich abbremst. Auch das Standbein will mir nicht mehr gehorchen. Zwar greife ich auf dem Weg gen Erdmittelpunkt noch nach schemenhaften Zweigen, um den Fall zu bremsen, die entpuppen sich jedoch als Hirngespinste.

Rums: Irgendwas Hartholziges drückt zwischen den Schultern, das rechte Schienbein fühlt sich auch suboptimal an. Kühles Laub schmiegt sich an den heißgeschwitzten Nacken. Die Kopfhörer sind von den Ohren gerissen, von ferne brüllt Dave Condon “ A body shrouded“. Joh Alter, genau das ist es. Ansonsten höre ich nur den ziemlich heftigen Wind, der durch das trockene Laub der Bäume fährt, jedenfalls zunächst. Dann raschelt etwas steuerbord von meiner ramponierten Unter-Extremität.

Himmel, was kann das sein? Das Rascheln wird lauter. Eigentlich fühle ich mich als Mitteleuropäer stets als überlegener Primat unter harmlosen Großsäugern. Allerdings kann ich gerade jetzt irgendwie nicht weglaufen. Was ist, wenn es ein Wildschwein ist? Die vermehren sich doch in letzter Zeit wie früher nur die Karnickel. Möglicherweise ein männliches Schwein, ein kapitaler Keiler. Beginnt die Fortpflanzung des Schwarzwildes nicht im November? Vielleicht ist mein Exemplar ein bisschen aus dem Takt geraten, Klimawandel und so. Ein brünftiger, kapitaler Keiler, der seinen Paarungsbezirk mit Hauern und Geifer vor der Schnautze verteidigen wird.

„Für eine Leiche braucht man drei Schweine“, so heißt es bei „Snatch“. Zwar bin ich noch keine Leiche und ziemlich wohlgenährt. Trotzdem: Einem wilden Eber würde ich keinesfalls Paroli bieten können. Ich sehe mich bereits als unappetitlicher Haufen im Polizeibericht, hebe aber trotzdem den Kopf. Da, wo es vorher geraschelt hat, ist Schwärze. Ich sortiere mich, richte mich auf, stelle fest, dass noch „alles dran ist“. Immerhin. Beim Aufstehen fühlt es sich so an, als hätte jemand ein paar Wirbel entnommen, wie ein Kartenspiel gemischt und an den falschen Stellen wieder eingesetzt. Ahja: Jetzt überlegen wir mal „Wo ungefähr sind wir und wo geht es weiter.“

In den nächsten 10 Minuten versuche ich zurück auf den Weg zu finden. Als es mir gelungen ist, bin ich lt. GPS noch ca. 500m von der Schutzhütte entfernt. Ich gehe in mich. Gehe ich weiter, oder kehre ich um? Die Vernunft siegt: Noch einmal taste ich mich schrittweise durchs Gehölz, bis das rote Grablicht von Ferne grüßt. Als ich es erreiche, setze ich mich erst mal auf die Mauer. Wenn ich noch rauchen würde, würde ich mir jetzt die Zigarette der Wiedergeburt anstecken. So bastel ich mir ersatzweise eine Alternativstrecke über Hergenrath zur Zollstation Bildchen. Als ich kurz vor 8 in den Bus steige, leicht hinkend und den Busfahrer überschwänglich grüßend, schaut der mich an, als hätte ich einen an der Klatsche. „Ich fahre aber nicht bis Hauptbahnhof..“ „Ich weiß, nur bis zur Schanz“ sage ich, denke mir aber „Wenn mich das Schwein nicht gekriegt hat, wird mich auch die ASEAG nicht umbringen.“

Note to self: Dr. Molly hat zwar keinen Schimmer, aber lässt die Puppen tanzen. Musik: Sunbather, Farsot, Altar of Plagues, Defeater.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..