Abrieb

Die Sache ist, wenn man sie auf einer Zeitachse mit geologischer Größenordnung betrachtet, klar wie dicke Tinte. Alle Dinge, die uns umgeben, werden im Laufe ihrer Existenz fortwährend kleiner, jedenfalls in erster Näherung. Egal ob es sich um Verschleiß durch Benutzung, um die Einwirkung von Wind, Wellen und Strömungen, oder um Korrosions- und Verwitterungsprozesse handelt, die Zeit kriegt alles klein. Und übrig bleibt neben dem sich ständig verkleinernden Ding eben der Abrieb, so lange bis wir zwischen dem Ding und dem Abrieb nicht mehr unterscheiden können. Dies wird uns nicht nur dann klar, wenn wir wieder mal mit Besen und Kehrblech einer erklecklichen Menge des wundersamen Stoffgemischs zu Leibe rücken, das wir Hausstaub nennen, dann aber ganz besonders. Und von dem mehr oder weniger unansehnlichen Haufen, der nach Beendigung der Verrichtung von der Schaufel in den Mülleimer wandert, bis zu den sandigen Ozeanen einer Gobi oder Sahara ist es dann eigentlich nicht mehr weit.

Weil wir es gerne ordentlich haben, dürfte es uns ungemein trösten, zumindest aber beruhigen, dass es auf unserem Planeten einen endgültigen Bestimmungsort für all das Abgeriebene, Abgetragene, Zersetzte gibt. Der Grund der Weltmeere gilt als globale Erosionsbasis. Was dort angelangt ist, das wird auch erstmal dort bleiben, jedenfalls so lange, das es uns nicht weiter interessieren muss. Ein neugieriges Kind in seiner „Ich löchere meine Eltern bis sie nicht mehr können“-Phase würde natürlich innerhalb weniger Minuten den Schwachpunkt obiger Überlegungen aufdecken: Wie kommt es, dass das Meer dann nicht schon längst voll ist? Und natürlich: Wo soll denn das eigentliche Meer hin, wenn es von unten immer weiter verlandet? Tja. Und schon sind wir fast bei unseren grundsätzlichsten Vorstellungen der Stoff- und Energiekreisläufe, den ewig andauernden geo- und biochemischen Prozessen angelangt, die wir einem neugierigen Kind nur mit übermenschlicher Geduld, das heißt eigentlich gar nicht, erklären können.

Wir sollten, so gesehen, dem Abrieb ebenso viel freundliche Aufmerksamkeit schenken, wie den Dingen, von denen er abgerieben wurde. Was ich gerade eben im (stets überreichlich vorhandenen) Schweiße meines Angesichts zusammengefegt habe war sicherlich, wenn auch nur zu einem kleinen Teil, Bestandteil der Pyramiden, von tropischen Korallenriffen des Tethysmeeres, von Stoßzähnen eiszeitlicher Mammuts, der Sohlen der Sandalen römischer Legionäre, von frühmittelalterlichen päpstlichen Popeln, den Achselhaaren kniehoher Australopithecinen, dem atomaren Pilz von Hiroshima und der allersüdlichsten Felsklippe Feuerlands.

Und weil der Abrieb die Geheimnisse seiner Herkünfte zwar in sich trägt aber nicht preisgibt, und weil er nur eine Momentaufnahme aus dem übergroßen Ding-Nichtding-Kontinuum ist, und weil wir uns darin von ihm überhaupt nicht unterscheiden, dürfen wir selig mit halb geschlossenen Augen „Sternenstaub“ murmeln, uns noch einen Kaffee machen und darauf warten, dass Zeit und Schicksal eins weiterblättern.

Note to self: Mausarm, oder wie? Musik: Yello, The Pogues.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..